2011
Wednesday
December
07

Ein Gegenpol zur gestressten Welt

Waldkirch

Zu einer internationalen Arbeitstagung trafen sich am Wochenende – erstmals mit Tagungsort Waldkirch – etwa 40 Repräsentanten der Vereinigung "Cittaslow", einem Zusammenschluss der "lebenswerten Städte". Neben dem Präsidium, in dem der Waldkircher Oberbürgermeister einer der Vizepräsidenten ist, kamen Vertreter der nationalen Netze aus der ganzen Welt im Elztalmuseum zusammen, um die nächsten Aktivitäten zu besprechen.

Ganz offensichtlich führen die hektischen Entwicklungen auf den globalen Finanz- und Wirtschaftsmärkten, die immer mehr Menschen auch im täglichen Leben geradezu strudelartig erfassen oder aus der Bahn schleudern, zu einer Verstärkung der Gegenbewegung: dem Wunsch nach mehr Achtsamkeit, Nachdenklichkeit, Stärkung regionaler Kreisläufe und Lebensqualität. Zur Zeit hat Cittaslow jedenfalls mehr als 30 Aufnahmeanträge vorliegen, davon 20 allein aus Frankreich, weitere aus Island, Korea, Polen, der Türkei, Kolumbien und weiteren Ländern, berichtet das Präsidium.

Vier neue Mitglieder wurden – nach Überprüfung durch eine Kommission – am Wochenende tatsächlich aufgenommen: Mirande in Frankreich, Blieskastel in Deutschland (zugleich zehnte deutsche Cittaslow-Stadt; Lörrach wartet noch), Clonakilty in Irland sowie Grumes in Italien. Die starke Nachfrage sieht das Präsidium grundsätzlich zwar als positiv an, zeige sie doch, wie sich der Cittaslow-Gedanke inzwischen immer mehr verbreitet; einem raschen Wachstum der Vereinigung stehen sie jedoch auch skeptisch gegenüber. "Es geht uns nicht um eine Anhäufung von Masse", sagt Cittaslow-Präsident Gian Luca Marconi. Wichtiger sei das Beibehalten und Ausgestalten von Qualität, und hier sehe man sich auf einem guten Weg.

Die 1999 in Orvieto (Italien) gegründete Cittaslow-Bewegung verschreibt sich der Entschleunigung. Auf den Geschmack gekommen waren die Initiatoren im wahrsten Sinne des Wortes in der Slow-Food-Bewegung, die auf die Verarbeitung hochwertiger, möglichst regional erzeugter Lebensmittel setzt, für die man sich auch gern die Zeit nehmen will, sie im Kreise von Verwandten, Nachbarn oder Freunden zu genießen. Waldkirch wurde im Mai 2002 Mitglied von Cittaslow und war damals die zweite Stadt in Deutschland.

Inzwischen geht es längst um mehr als leibliche Genüsse: Arnoud Rodenburg aus Midden-Delfland (Niederlande) berichtet, dass Cittaslow den Europäischen Rat bei der Lösung von sozialen Problemen und Armutsbekämpfung berät. Auch die Pariser Eliteschule ENA hält die auf eine nachhaltige Stärkung von lokalen Kreisläufen angelegte Arbeit von Cittaslow für beispielhaft und will sie von Staats wegen in Klein- und Mittelzentren in Frankreich fördern. Ähnlich sieht es in China aus und in Korea, wo man in der rasanten Entwicklung inzwischen auch Gefahren sieht. Während in Waldkirch gerne mal in der Bevölkerung die Nase über das Schneckensymbol der Cittaslow-Bewegung gerümpft wird und die "slow city" eher für Witzeleien ("Schneckentempo") herhalten muss, suchten die internationalen Vertreter am Wochenende einmal mehr nach Rezepten für die Verbesserung der Lebensqualität in ihren Städten und Regionen.

Handlungsfelder gibt es viele, ist sich Oberbürgermeister Richard Leibinger sicher und nennt unter anderem die Arbeitsmarktpolitik: Die Waldkircher Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (Wabe) und der Ausbildungsverbund, in dem mehr als ein Dutzend Betriebe gemeinsam die Ausbildung von Jugendlichen übernehmen, stehe für die Betroffenen sicher für eine Verbesserung ihrer Lebensqualität. Die Jugendarbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern beinhalte enormen sozialen Sprengstoff, ihr entgegen zu wirken, sei eine wichtige, geradezu zentrale Aufgabe, der sich auch Cittaslow stellen müsse. Leibinger schlug dies als Thema für eine der nächsten Arbeitstagungen vor.

Auch Stichworte wie nachhaltige Flächenpolitik und Stadtsanierung, regionale Energieerzeugung mit Bürgerbeteiligung (Dieter Nagel von den Stadtwerken referierte vor den Cittaslow-Vertretern darüber), öffentlicher Nahverkehr, soziale und Freizeit-Einrichtungen oder lokale Kultur sind Anknüpfungspunkte, um die Lebensqualität in den Städten zu erhöhen und dabei die Bürger mitzunehmen